Um es gleich vorwegzunehmen, ich bin kein Abruzzen-Spezialist, ich bin ein Abruzzen-Liebhaber. Das ist ein großer Unterschied: Während der Experte so gut wie alle Sehenswürdigkeiten, Naturschönheiten, Geheimtipps, wie auch touristische Hotspots kennt, freut sich der Liebhaber genau diese nach und nach zu entdecken. Und da gibt es eine solche Vielzahl davon in den Abruzzen, dass mir hier – obwohl ich schon oft in dieser Gegend war – ständig neue begegnen. Ich kenne kaum eine Region, die eine derart große Vielfalt aufweisen kann: vom einsamen Sandstrand bis zum Fastdreitausender, von den wilden, einsamen Bergdörfen bis hin zur pulsierenden Stadt am Meer. Einzig weites, flaches Land, das gibt es in den Abruzzen nur wenig, wobei es durchaus einige ungeheuer reizvolle Hochebenen gibt. Die berühmteste ist wohl der Campo Imperatore.
Vielleicht ist das Campo sogar das Herzstück der Abruzzen, oder zumindest die Quintessenz des gebirgigen Teiles, denn die Küstenregionen vermitteln freilich eine andere Stimmung, ein anderes Lebensgefühl. Am Meer ist es deutlich touristischer, doch wenn man die schönen, unter Naturschutz stehenden Naturstrände sieht, könnte man durchaus von einem sanften Tourismus sprechen.
Die kleinen, abseitsgelegenen Bergdörfer wirken dagegen oft wie aus der Zeit gefallen. Da liegen in einer engen Gasse Hund und Katz im Schatten eines alten, verrosteten Fiat Panda 4x4, da hängt ein Wäschestück vor dem Balkon, aber sonst wirkt alles verlassen. Eine Stille zum Greifen. Vielleicht finden wir noch eine kleine Bar, wenn es ein etwas größeres Dorf ist. Da sitzen dann die Alten (Männer), trinken ein Glas Wein, spielen Karten, tauschen den neuesten Klatsch und Tratsch aus und schimpfen über die Regierung in Rom, von der sie sich verraten oder zumindest vergessen fühlen. Sie reden darüber, was ihre Kinder machen, die längst weggezogen sind, woanders ihr Glück suchen.
In etwas größeren Orten, am Fuße des Gran Sasso, in der Nähe von L‘Aquila, da gibt es mehr Leben. Ein schönes Beispiel ist Barisciano, wo das Leben im kleinen Ort noch pulsiert, es viele Kinder, einen Supermarkt und einen Feinkostladen gibt – und natürlich eine Bar. Aber kehren wir zurück zum Campo Imperatore. Es gibt kaum einen Flecken Erde, der mich so fasziniert wie diese riesige, wilde, unbesiedelte Hochebene. Sie wird flankiert von einem ca. 20 km langen Gebirgskamm, über allem thront der mächtige Felsklotz des Corno Grande, mit 2912 Metern der höchste italienische Berg auf dem Festland außerhalb der Alpen. Doch nicht nur diese Tour ist absolut lohnend, auch andere Gipfel in dieser Kette sind sensationell schöne Bergtouren. Die meiste Zeit des Jahres sind diese Touren auch sehr einsam (Ausnahme Corno Grande), man darf nur nicht während der italienischen Sommerferien kommen (insbesondere der August ist problematisch); doch auch im Corona-Jahr 2020 war ungewöhnlich viel los in der Gegend. In diesem Herbst (2021) haben wir auf insgesamt 4 Bergtouren nur zweimal andere Menschen getroffen. Doch schon die Anfahrt zu diesen Bergtouren, das Erkunden des Campo Imperatore mit dem Auto oder Fahrrad ist außergewöhnlich reizvoll. Nicht umsonst wird die Gegend auch Klein-Tibet genannt und sie kann mit ihrer Weite und den wilden Bergen auch wirklich mit südamerikanischen oder asiatischen Hochebenen mithalten. Deshalb musste die Gegend schon häufig als Filmkulisse herhalten: „Der Name der Rose“ und "Vier Fäuste für ein Halleluja" mit Bud Spencer und Terence Hill sind wohl die berühmtesten Beispiele.
Doch auch geschichtlich hat das Campo Imperatore etwas zu bieten. Im Sommer 1943 wurde der gestürzte Duce del Fascismo, Benito Mussolini, im mittlerweile verfallenen Hotel Campo Imperatore gefangen gehalten und durch eine abenteuerliche, deutsche Militäraktion wieder befreit. Und erdgeschichtlich? Das Hochplateau wurde von einem Gletscher geformt und ist ca. 15 km lang und 5 km breit. Einen Miniatur-Restgletscher gibt es noch auf der Nordseite des Corno Grande, doch der Calderone-Gletscher, der südlichste Gletscher Europas, ist am Sterben und nur noch ein kleines Firnfeld. Die gesamte Gegend ist übrigens Teil des Nationalparks Gran Sasso und Habitat für den italienischen Wolf, doch auch Adler kann man hier beobachten. Beeindruckend zudem die Viehherden: Große Schafherden, bewacht von weißen Maremmen-Abruzzen-Hirtenhunden, Rinder und Pferde weiden hier vor großartiger Kulisse.
Sehenswert sind auch die Monti della Laga an der Grenze zum Latium. Sie sind nicht weit vom Gran Sasso entfernt, erscheinen jedoch viel sanfter und ähneln in den Gipfelregionen den Kitzbüheler oder Tuxer Voralpen. Hier kann man mit etwas Kartenstudium – in den Gipfelregionen oft weglos – sehr einsame Berge erkunden. Der Lago di Campotosto, ein traumhaft gelegener Stausee am Fuße dieser Berge, ist ebenfalls einen Besuch wert. Sehr lohnend ist es mit dem Fahrrad um den ganzen See herum zu fahren.
Während andere Strecken meist sehr bergig und in der Hitze extrem anstrengend sein können, ist diese Rundtour flach und bietet Eindrücke, die man so schnell nicht vergisst. Dazu gehört leider auch der vom Erdbeben im Jahr 2009 fast völlig zerstörte Ort Campotosto. Als wir 2018 unsere Radltour um den See gemacht haben, herrschte hier noch eine wirklich bedrückende Stimmung zwischen den Ruinen. Nun entstehen um den ursprünglichen Ort mehr und mehr Neubauten, die alten Häuser waren meist bis auf die Grundmauern zerstört und wohl nicht mehr zu retten. Kurz darauf (wenn man im Uhrzeigersinn unterwegs ist) passiert man übrigens zwei Gasthäuser, die sehr gute lokale Küche zu sehr fairen Preisen anbieten. Überhaupt kann man in dieser Gegend häufig sehr gut und preiswert essen, insbesondere dann, wenn man die Lokale der Einheimischen besucht.
Da ist es an der abruzzesischen Meeresküste schon teurer, dafür kann man hervorragend Fisch essen. Man findet hier lebendige Badeorte mit Touristenstränden ebenso wie Naturstrände. Mir persönlich hat es Vasto angetan. Die Altstadt liegt oben am Berg und man hat bei der abendlichen Promenade einen romantischen Blick auf die zauberhaft illuminierte Küste. In der Fußgängerzone lässt sich in einer der vielen Bars auf sehr chillige Weise ein Sundowner trinken. Ganz in der Nähe von Vasto findet man, versteckt hinter den Hässlichkeiten eines Industriegebietes, das Naturreservat Punta Aderci mit seinen Naturstränden. Auch hier kann man einen Strandtag sehr gut mit einer Radltour verbinden. Es gibt ausgeschilderte Rundtouren für Mountainbiker.
Termoli hat eine pulsierende, deutlich stärker frequentierte Altstadt. Da tobt abends der Bär und man fällt von einem Lokal ins andere. Besonders bei der Festung am Meer zeigt sich aber auch hier die romantische Seite. Apropos Festung:
Auch L’Aquila, die Hauptstadt der Abruzzen, am Fuße des mächtigen Gran Sasso, weiß mit einer riesigen Festung zu beeindrucken. Die ebenfalls von Erdbeben stark gebeutelte Universitätsstadt hat eine Fußgängerzone mit großen, altehrwürdigen Palazzi. In der Hauptstadt sind die meisten Erdbebenschäden aber schon wieder beseitigt, da und dort stehen auch noch die Gerüste und Stützen.
Und alles liegt so nah beieinander. Die verlassenen Dörfer, die schöne Stadt, die grünen Schluchten und Wasserfälle, die Berge und das Meer. Wo hat man sonst einen Fastdreitausender mit Blick zum Meer? Für die Verbindung und gleichsam den umwerfenden Kontrast zwischen Meer und Berg steht wie kein anderer der Monte Amaro in der Gebirgsgruppe der Majella. Er dominiert die Szenerie im Süden durch seine Nähe zur Küste und seine enorme Höhe, steht er doch 2793 Meter über dem Meer. Er wirkt wie ein Gigant; er ist ein Gigant, und doch konnte ich ihn noch nicht besteigen (wie auch andere Majella-Berge). Mein Spezl hat noch ein paar Tage drangehängt an unsere gemeinsame Reise und diese große und großartige Tour gemacht. Bei mir ist es noch ein Projekt. Wie gesagt, ich bin ein Abruzzen-Liebhaber und kein Experte.
Ein netter Ausflug führt einen nach Borrello zu den höchsten Wasserfällen des Apennin. Auch der Sentiero Vecchio Mulino - der Weg der Alten Mühle an einem grünen Bachtal entlang - ist sehr schön. Eine bewirtschaftete Hütte und einige Picknickplätze laden außerdem zum Rasten und Chillen ein.
Autor: Bernhard Ziegler