Am 6. Januar 2020 wäre der 2007 verstorbene Pleisen-Toni 100 Jahre geworden – eine Bergsteigerpersönlichkeit aus Scharnitz, ein Urgestein aus dem Karwendelgebirge und nicht zuletzt Hüttenwirt und Bergführer. Durch seine wirklich bemerkenswerte Lebensgeschichte wurde Toni Gaugg zu einer weit über die Grenzen Tirols hinaus bekannten Persönlichkeit. 3 Jahre vor seinem Tod durfte ich den Toni für eine Zeitung interviewen. Und bei diesem gemütlichen Ratsch hat er mir viele Geschichten erzählt…
Wenn ich über die Pleisen etwas erzählen soll, weiß ich gar nicht, wo anfangen. Bei der herrlichen Bergtour, beim legendären Toni mit seinen vielen Geschichten, beim Sonnenuntergang auf der Terrasse der Hütte, bei den Höhlen und dem Elch, beim Blockhaus, das seinesgleichen sucht, oder beim Pleisen-Sigi, der heute die Hütte führt und ein würdiger Nachfolger seines Vaters ist?
5 Jahre war Toni Gaugg in russischer Kriegsgefangenschaft und lernte dort das Bauen von echten Blockhütten. Keine schöne Zeit und dennoch hatte er der Sache etwas Gutes abgerungen. „Think positive!“ (würde man heute sagen) und so hat sich der Toni geschworen: „Wenn ich aus diesem Schlamassel der Gefangenschaft jemals wieder herauskomme, dann nutze ich das, was ich in Russland gelernt habe und verwirkliche meinen Jugendtraum.” Der da wäre: eine Hütte oben an der Pleisenspitze, seinem Lieblingsberg im herrlich wilden Karwendel.
Es war im Jahre 1953, da holte sich der Toni die Genehmigung am Pleisen eine Hütte zu errichten. Die wurde ihm gerne erteilt, denn kaum einer glaubte an die Verwirklichung seines Planes. Im Gegenteil: der Toni musste sich sogar einigen Spot anhören. Man muss wissen, dass es damals noch nicht einmal einen Weg hoch zum Bauplatz gab. Doch die positive Sturschädeligkeit des Toni Gaugg und seine unbändige Kraft halfen ihm sein Vorhaben umzusetzen. Alles – sämtliches Werkzeug und auch Baumaterialien - schleppte er selbst hinauf. Die Stämme für die Blockhütte wurden dann oben am Berg schlagen. Noch im selben Jahr stand die Hütte und als der erste Schnee kam, war das Dach bereits drauf. Wie mir der Toni die Geschichte vom Hüttenbau erzählte, da leuchteten seine Augen noch immer vor Stolz. Zu Recht!
Berühmt ist der Toni aber nicht nur deshalb geworden. Das erste Mal in der Zeitung stand er nämlich wegen einer anderen Sache. Er entdeckte am Pleisen eine ganze Reihe von Höhlen, die er erforschte und dabei sogar ein Elch-Skelett fand. 8000 Jahre ist es etwa alt und steht heute zur Besichtigung im Tourismus-Büro von Scharnitz. Dort fand man den rüstigen Mann in den vergangenen Jahren häufiger als auf seiner Hütte; und ein Gespräch mit ihm war erstens gleich angebahnt und zweitens immer lohnend. Denn er hatte viel zu erzählen: Von seiner Zeit als Bergführer und Bergwachtchef beispielsweise - viele haben ihm sein Leben zu verdanken. Von seinen Bergen, dem Karwendelgebirge, das er so sehr liebte und dem er einen großartigen Lichtbildervortrag widmete. Von der Route von der Pleisenhütte zum Karwendelhaus - ein Weg, den er einst eröffnet hatte und der später von seinem Sohn Sigi markiert wurde. Heute heißt diese Route ganz offiziell Toni-Gaugg-Höhenweg und ist auch so in den Karten verzeichnet. Diese Traverse ist übrigens eine der schönsten Routen im Karwendel überhaupt.
Auch vom Yeti hat mir der Toni erzählt. Es handelt sich hierbei aber nicht um eine Sagengestalt, sondern um einen Münchner, der so groß war, dass er im Winter Fußabdrücke wie ein Yeti hinterlassen hatte und der so zu seinem Spitznamen gekommen ist. Nebenbei hat dieser Yeti einst der Pleisenhütte das erste Funktelefon spendiert für damals etwa 3500 Mark. Er war wohl nicht nur ein großer, sondern auch ein großherziger Mensch.
So kann man mit etwas Glück interessante Persönlichkeiten treffen auf der Pleisenhütte. Allen voran natürlich den Pleisen-Sigi, der vom Vater die Hütte übernommen hat und der dem Senior zum 80. Geburtstag eine Antoniuskapelle neben der Hütte errichtet hat. Der Sigi ist ein wirklich würdiger Nachfolger und erhält das Blockhaus im besten Sinne einer echten Bergsteigerunterkunft. Auch wenn die Hütte mehrfach erweitert wurde; hier stimmt die Atmosphäre einfach immer noch. Leicht kommt man hier also mit anderen ins Gespräch, etwa auf der Sonnenterrasse, wenn der Hohe Gleirsch zu leuchten beginnt, oder nachher in der urigen Stube der Blockhütte, wenn die Petroleumlampen angezündet werden und man sich bei einem Glaserl richtig verratscht. Dann werden Geschichten aus dem Karwendel erzählt, vom besten Lawinenhund aller Zeiten etwa. Oder es wird sogar manchmal Musik gemacht, wenn die richtigen Leut’ beieinander sitzen und die Stimmung eben danach ist.
Will man auf die Pleisenspitze, dann kommt man an der Hütte nicht vorbei. Nicht, weil man mit entsprechender Kondition den Berg als Tagesunternehmung nicht packen könnte. Nein, weil deren Ausstrahlung einfach keinen kalt lässt. Und, weil der Sommerweg auf den Gipfel nicht nur an der Hütte vorbeiführt, sondern sogar direkt über die Hüttenterrasse geht. Und wer kann dann schon nein sagen zu einem Erfrischungsgetränk mit traumhaftem Karwendelblick? Dennoch sei hier erwähnt, dass auch der Gipfelbesuch absolut lohnt. 2 Stunden braucht man von der Hütte noch auf den 2569 Meter hohen Spitz. Gewaltig ist von dort oben der Rundblick; bis in die befirnten Zentralalpen reicht die Schau inmitten dieser Karwendel-Ewigkeit.
Wer oben auf der Pleisen war, darf also für ein paar Stunden in eine andere Zeit reisen. Es ist die Zeitrechnung der Familie Gaugg, die sich ihren eigenen Rhythmus bewahrt hat - es die gute alte Zeit des Pleisen-Toni.
Wie oben erwähnt, gab es früher keinen Weg hinauf zur Pleisenhütte, den musste der Toni erst anlegen. Da der Zustieg zur Hütte aber durch ein riesiges Latchen-Dickicht führt, war das gar nicht so leicht. Um einen gleichmäßig ansteigenden Weg herauszuschneiden, hat der Toni während der Wintersaison die Spitzen der herausragenden Latschen mit Bändern markiert. So konnte er im Sommer eine sinnvolle, gleichmäßig ansteigende Wegtrasse roden.
Autor: Bernhard Ziegler